Home / 10. Kapitel: Endlich oben!

Der Weg bergauf wurde immer steiler und steiler und die erschöpfte Tal-Ente musste immer öfter stehen bleiben um Luft zu holen. Sie hoffte hinter jeder Biegung endlich ihr Ziel zu erreichen, denn schließlich wurde es inzwischen dunkel.
Aufgeregt dachte sie: „Ich bin fast oben! Hoffentlich freut sich die Berg-Ente genauso mich zu treffen, wie ich mich auf sie freue!“
Der Mond schien durch die Wolken und es fühlte sich an, als wäre sie schon ewig unterwegs, da erreichte sie eine Hochebene. Ein kalter, recht starker Wind wehte hier oben. Sie blickte sich in der Dunkelheit um, so gut es ging.
Die Tal-Ente sah viele große Felsen auf einer kargen Wiese. Ein paar Büsche, die ihr unbekannt waren, standen vereinzelt auf der Wiese. Blumen oder Blümchen sah sie nicht.
Obwohl der Wind nur so pfiff, vernahm die Tal-Ente ein leises Plätschern.
„Das klingt wie Wasser! Vielleicht ist es eine Quelle?“ Gleich watschelte sie auf der steinigen Wiese in die Richtung, in der sie die Quelle sprudeln hörte.
Der Wind wehte kalt, doch die Tal-Ente ging weiter. Schon sah sie eine Quelle. Und an der Quelle – da saß tatsächlich eine braune Ente im Schilf!
Das Quellwasser floss zu einem kleinen Teich zusammen.
Das Herz der Tal-Ente klopfte schnell. Ob sie nun ihr Ziel wirklich erreicht hatte?
Sie watschelt zögerlich zu der anderen Ente, die mit dem Rücken zu ihr am Wasser saß.
„Guten Abend! Ich bin die Tal-Ente. Bist du vielleicht die Berg-Ente?“, fragte sie vorsichtig.
„Ja, die bin ich. Was führt dich zu mir?“, fragte die Berg-Ente verwundert, denn Besuch bekam sie hier oben eigentlich nie, erst recht nicht um diese Uhrzeit.
„Schön dich endlich kennen zu lernen!“, quakte die Tal-Ente erleichtert. „Ich bin den weiten Weg vom Tal am Fuß des Berges hier herauf zu dir gewatschelt, weil ich in meinem Tal so einsam war. Also wollte ich dich besuchen. Ein Storch war über diesen Berg geflogen und hatte dich gesehen. Von ihm weiß ich, dass du hier wohnst.“, sprach die Tal-Ente aufgeregt.
„So, so.“, meinte die Berg-Ente nur. Sonderlich gesprächig war sie noch nie gewesen.
Verwundert über diese knappe Reaktion ging die Tal-Ente erstmal zur Quelle um zu Trinken. Dann fragte sie:
„Warum lebst du denn hier oben auf dem Berg?“
„Ach, das ist eine längere Geschichte.“, antwortete ihr die Berg-Ente ausweichend. „Ich bin schon müde und werde jetzt schlafen gehen. Aber du musst von deiner Reise sehr hungrig sein. Komm mit, ich zeige dir meinen Unterschlupf, dort habe ich auch einen Futtervorrat.“, sprach die Berg-Ente.
Die Tal-Ente folgte ihr zu einer kleinen Höhle in einem Fels. Dann zeigte ihr die Berg-Ente, wo ihre Vorräte waren. Danach watschelte die in sich gekehrte Berg-Ente zu einer windstillen, kleinen Nische neben dem Höhleneingang, zog ein Bein an, steckte den Schnabel unter einen Flügel und schloss die Augen.
Da stand die Tal-Ente also. Vor sich war das Futter, das sie nur dank des Mondlichtes erkennen konnte. Es roch nach Beeren und Gräsern. Doch so saftig wie im Tal waren die Beeren nicht. Hungrig fraß sie, bis sie satt war. Dann tat sie es der Berg-Ente gleich und suchte sich einen Schlafplatz, was gar nicht so leicht war, bei dem kalten Wind hier oben. Müde schloss auch sie die Augen.

Plötzlich war sie mitten im Wald auf einer Lichtung. Vor ihr stand das Eichhörnchen. Aber es war viel kleiner. Ungefähr so klein wie die Waldmaus, und es hatte pelziges Murmeltierfell. Es sprang, wie ein Frosch auf ein großes, weißes Ei. Von dort oben sagte es mit tiefer, brummiger Stimme, die wie die Stimme des Bären klang:
„Vergiss uns nicht!“

Die Tal-Ente riss die Augen auf, eine Berührung hatte sie geweckt. Da erblickte sie vor sich die Berg-Ente, die mit den ersten Sonnenstrahlen aus der Höhle gewatschelt war. Sie hatte sie wohl gestreift, als sie an ihr vorbeigegangen war. Neugierig folgte ihr die Tal-Ente. Doch da drehte sich die Berg-Ente schon nach ihr um. Sie hatte ihre Schritte gehört.
„Der neue Tag bricht an.“, sagte sie zur Tal-Ente. „In wenigen Momenten wirst du hier etwas Wundervolles zu sehen bekommen! Ich liebe es, wenn die Dunkelheit der Nacht einem strahlenden Tag weicht. Warte noch kurz, dann weißt du, was ich meine.“ Ihre Augen glänzten, so sehr schwärmte sie.
Die Tal-Ente wunderte sich zwar, was die Berg-Ente meinte, aber sie blieb neben ihr stehen und blickte wie die Berg-Ente auf die aufgehende Sonne. Die rot-orange leuchtende Sonne schob sich immer weiter zwischen den umliegenden Bergen hervor und wurde immer größer und gewaltiger. Die ersten Sonnenstrahlen hatten noch wenig Kraft, sie wärmten kaum. Sie färbten den wolkenlosen Himmel orange und rosa, aber gleichzeitig auch rot. Es war ein einzigartiges Farbenspektakel! Die Tal-Ente war begeistert.
„Jetzt verstehe ich, was du meinst!“, sagte sie der Tal-Ente beeindruckt.
Auf den wenigen Bäumen, die es hier oben gab, begannen die ersten Vögel die Sonne zwitschernd zu begrüßen. Die Tal-Ente ging ein paar Schritte zum Rand des Berges und sah in die Tiefe. Weit unter ihr lag der Wald, den sie durchquert hatte. Den See sah sie auch, doch nur wenige, kraftlose Sonnenstrahlen schienen in das Tal. Dort war es noch dunkel. Dann blickte die Tal-Ente wieder auf und genoss den wunderschönen Sonnenaufgang, den sie so wohl nur hier auf dem Berg erleben konnte.
Die Berg-Ente war der Tal-Ente gefolgt, sah sie von der Seite an und sagte dann:
„Du hast mich gestern gefragt, warum ich auf den Berg gekommen bin, um hier zu Wohnen. Ich liebe zum Beispiel diese traumhaft schönen Sonnenaufgänge. Natürlich gefallen mir auch die Sonnenuntergänge am Abend. Die sind auch herrlich! Aber was ich am meisten mag, ist, dass es hier so still ist, so ruhig. Weißt du, ich bin gerne alleine. Ich finde es aber auch schön, dass du mich besuchst! Aber das Leben hier oben kann hart und unwirtlich sein. Im Winter, der ja bald kommt, liegt hier beispielsweise viel eisiger Schnee und der Wind pfeift einem nur so um die Ohren. Aber ich bin trotzdem gerne hier oben. Ich glaube nur leider nicht, dass es dir auch gefallen würde.“
Sie sah die Tal-Ente freundlich an und die Tal-Ente wusste, dass die Berg-Ente sie nur warnen wollte. Sie wollte sie nicht wegscheuchen, nein. Die Berg-Ente war wohl einfach besorgt darüber, dass es der Tal-Ente nicht gut ergehen könnte.
„Ich hatte heute Nacht einen seltsamen Traum.“, erzählte ihr die Tal-Ente.
„Ich habe von den Tieren geträumt, die mir auf meiner Reise zu dir begegnet sind. Ich habe mich sehr gut mit ihnen verstanden. In dem Traum wollten sie, dass ich sie nicht vergesse. Jetzt fehlen sie mir.“ Die Tal-Ente dachte einen Moment nach, dann sprach sie weiter.
„Eigentlich bin ich ja nur von meinem Tal weggewatschelt, weil ich dort einsam war. Ich hatte keine Freunde. Aber auf meinem Weg zu dir habe ich Freunde gefunden und sie leben auch noch in der Nähe des Tals! Ich sehe dass ich nicht hierher gehöre, mein Platz ist unten in meinem kleinen Tal. Aber du bist gerne hier oben auf dem hohen Berg.“
Die Sonne war inzwischen fast ganz aufgegangen und strahlte die beiden Enten warm an. Um sie herum war es hell geworden.
Da sah die Tal-Ente die Berg-Ente an und meinte versöhnlich:
„Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Ich denke, du hast Recht. Wir sind sehr unterschiedlich. Du brauchst deine Ruhe und ich brauche Freunde um mich herum. Also werde ich jetzt wieder bergab zu meinem Tal watscheln um nach Hause zu kommen.“
„In Ordnung. Es ist schade, dass du schon wieder aufbrichst, aber ich verstehe deine Entscheidung.“
Die Tal-Ente nickte erleichtert und quakte dann:
„Berg-Ente, du bist immer bei mir im Tal willkommen, solltest du einmal Lust auf ein bisschen Geschnatter haben!“
„Danke, Tal-Ente, das ist sehr freundlich von dir.“, erwiderte die Berg-Ente. „Wenn mir danach ist, besuche ich dich! Ach ja, du musst übrigens nicht den ganzen Weg herunter watscheln. Du kannst auch einfach an der Quelle in den Bach springen und ihn hinunter schwimmen. Er endet im See.“
„Ach ja, genau. Das habe ich mir schon gedacht, dass dieses Quellwasser zu dem Bach wird, der in meinem Fluss endet. Das ist eine super Idee!“, quakte die Tal-Ente mit leuchtenden Augen. Herunter zu schwimmen war viel angenehmer und einfach, als herunter zu watscheln. Und wie lange war sie nun schon nicht mehr geschwommen?
Die beiden Enten frühstückten noch gemeinsam. Dann verabschiedeten sich voneinander und die Tal-Ente watschelte im warmen Sonnenschein zur Quelle des Bachs.