Home / 9. Kapitel: Ich kann etwas, das du nicht kannst!

Die Tal-Ente wanderte weiter den Berg hinauf. Die Sonne schien und wärmte sie. Sie dachte fröhlich an all die Tiere, denen sie nun schon begegnet war.
„Kaum war ich losgewatschelt, da traf ich den singenden Frosch. Im Wald erzählte ich der Waldmaus die Gute-Nacht-Geschichte, dann begegnete ich dem Eichhörnchen, welches seine Vorräte überprüfte, ich floh vor dem furchtbaren Fuchs, dichtete für den braunen Bären, und schließlich traf ich die pelzigen Murmeltiere. Ich bin gespannt, ob ich auf meiner Reise zur Berg-Ente noch weitere Tiere treffe.“
Der Weg wurde immer steiniger und immer steiler. Je näher die Tal-Ente dem Gipfel des Berges kam, desto weniger Büsche und Bäume wuchsen auf ihrem Weg. Die Sonne schien immer stärker auf sie herab, doch schattige Plätzchen wurden seltener.
Japsend und schnaufend erreichte die Tal-Ente einen ebenen Felsvorsprung. Sie blieb stehen um Luft zu holen. Da entdeckte sie ein Nest an der Kante des Felsvorsprungs. Es war ein großes Nest aus Ästen und Blättern. Darin lag ein ziemlich großes, weißes Ei.
Die Tal-Ente sah sich um. Sie wollte wissen, zu welchem Vogel dieses Ei gehören könnte.
„Es muss ein großer Vogel sein der dieses große Ei gelegt hat.“, dachte sie. Doch sie sah niemanden.
Vorsichtig näherte sie sich dem Nest. Da erblickte sie noch ein zweites großes, weißes Ei.
„Wann sie wohl schlüpfen?“, fragte sich die Tal-Ente. „Aber ich werde jetzt weiter watscheln, hier ist ja niemand, mit dem ich plaudern kann.“, entschied sie.
So drehte sich die Tal-Ente um und wollte gerade wieder auf dem Weg weiter bergauf gehen, da hörte sie einen lauten, kreischenden Vogelschrei hinter sich. Sie blickte sich um. Und wen sah sie da? Welcher Vogel flog geradeaus auf sie zu?
Es war ein Adler! Sein Körper und seine Flügel waren dunkelbraun. Nur sein gekrümmter Schnabel leuchtete gelb aus dem Adlergesicht hervor.
Schon landete er auf dem Felsvorsprung bei dem Nest und bremste seinen Schwung in kleinen Sprüngen ab.
Die Tal-Ente, die ja viel kleiner war als der Adler, bekam plötzlich Angst. Ihr Herz schlug schneller.
„Bitte, großer Adler, bitte tu‘ mir nichts!“, rief die Tal-Ente, als dieser sie mit seinen stechenden, gelben Augen erblickt hatte.
„Wer bist du und was willst du bei meinem Nest?“, fragte der Adler bedrohlich.
Scheu sah sie den Adler an.
„Ich… Ich bin die Tal-Ente aus dem Tal ganz unten am Berg. Eigentlich möchte ich nur weiter bergauf wandern. Oben am Berg lebt die Berg-Ente. Ich möchte sie besuchen.“, stammelte sie unsicher.
„So? Na gut, das will ich dir glauben.“, meinte der Adler nun etwas ruhiger. Welche Gefahr stellte so eine kleine Ente schon für seine Eier dar? Auch die Tal-Ente beruhigte sich wieder.
„Aber dann hast du ja schon einen weiten Weg hinter dir! Das heißt du bist weit geflogen!“
„Geflogen?“, fragte die Tal-Ente ganz verdutzt. „Nein, ich bin hauptsächlich gelaufen, also eigentlich gewatschelt. Fliegen kann ich fast gar nicht. Das habe ich nie so richtig gelernt. Nur vor ein paar Stunden, als ich vom Fuchs verfolgt wurde, da bin ich wirklich davongeflogen!“, sprach die Tal-Ente stolz.
„Was? Du kannst nicht gut fliegen?“, fragte der Adler und lachte laut. „Fliegen kann doch jedes Tier mit Flügeln! Aber was interessierst du mich überhaupt, du Ente. Ich, ich prächtiger Adler bin der Meister im Fliegen! Ich bin der König der Lüfte!“, sprach der Adler angeberisch.
Und um zu zeigen, wie groß seine braungefiederten Flügel waren, reckte und streckte er sich und flatterte dabei mit seinen Schwingen.
Die Worte des Adlers machten die Tal-Ente nachdenklich. Kurz besann sie sich, dann antwortete sie dem eingebildeten Adler:
„Du magst Fliegen können, was ich nicht so gut kann. Aber ich kann Schwimmen. Kannst du das auch?“
„Schwimmen?“ Der Adler sah sie verwirrt an. „Was – da werd‘ ich ja nass! Obwohl…“, der Adler dachte nach. „Ich weiß, dass meine Verwandten, die Seeadler, nach Fischen tauchen, aber Schwimmen? Nein, dass können Adler nicht!“
„Für mich ist Schwimmen das Schönste auf der Welt!“, meinte die Tal-Ente strahlend. „Ich schwimme immer im blauen See unten im Tal. Dort tauche ich auch manchmal, und so finde ich zum Beispiel leckere Wasserpflanzen.“
„Igitt, Wasserpflanzen! Aber nein, ich muss zugeben, geschwommen bin ich noch nie.“, sprach der Adler nun etwas kleinlaut.
„Nun ja, so kann jeder von uns etwas besonders gut. Jedenfalls macht mir das Schwimmen viel Spaß. Dir macht Fliegen viel Spaß. Jedem macht eine andere Art von Bewegung Spaß und das ist in Ordnung so. Hauptsache man bleibt fit, nicht wahr?“, meinte die Tal-Ente zwinkernd.
„Oh ja, da hast du recht. Ich muss momentan so viel auf meinen beiden Eiern sitzen und brüten, ich bewege mich dabei also fast gar nicht. Dann kurz Fliegen zu können wenn ich Beute jage, tut richtig gut!“, stimmte der Adler zu. „Gut dass du es sagst, ich muss weiterbrüten.“ Und schon stieg der Adler behutsam in das Nest und setzte sich auf die beiden Eier.
„Dann werde ich jetzt auch weiter gehen. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, lieber Adler!“
„Den wünsche ich dir auch!“

Mittlerweile wurde es kühler. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen und sich die nächtliche Dunkelheit ausbreiten.
Fröhlich dachte die Tal-Ente als sie weiter bergauf ging: „Ich kann zwar nicht gut Rechnen und Fliegen, aber das kann ich ja noch üben und außerdem kann ich andere Dinge gut. Ich kann zum Beispiel Schwimmen, aber auch Singen, Geschichten erzählen und Dichten. Ich wusste nicht, dass ich das alles kann. Manchmal muss man wohl erst eine Herausforderung annehmen, also sich etwas trauen, um sich selbst besser kennenzulernen. Und das macht sogar Spaß! Diese Reise ist sehr interessant und wunderschön!“